Was tun, wenn man plötzlich nicht mehr arbeiten kann? Viele Branchen hat die COVID-19 Krise besonders hart getroffen. Unter ihnen sind vor allem Berufsgruppen mit Kundenkontakt. Viele denken dabei an Coiffeursalons, aber es trifft auch Tattoo-Artists rund um die Welt. In der Schweiz haben sich einige von ihnen zusammengetan, um aus der Not eine Tugend zu machen. Auf der Plattform Instagram machen sie mit einem Profil namens Isolation Art Project auf sich aufmerksam. Die Posts des Accounts sind vielseitig. Bilder von Totenköpfen bis WC-Papierrollen, düster bis lustig, ist alles vertreten.
Wie die Künstlerinnen und Künstler auf diese Situation reagieren, ist sehr kreativ. Sie arbeiten an einem geteilten Kunstprojekt. Es soll etwas entstehen, zu dem alle Artists etwas beigetragen haben. Wichtig ist aber auch, was im Hintergrund geschieht. Über verschiedene Gruppen werden Informationen geteilt, um sich gegenseitig zu helfen.
Der erste Post tanzt allerdings aus der Reihe. Er besteht aus drei Seiten Text, Weiss auf Schwarz, in Deutsch, Englisch und Französisch:
Isolation Art Project ist aus einer kleinen WhatsApp-Gruppe entstanden, um Tätowierer*innen aus der ganzen Schweiz über die aktuelle COVID-19-Pandemie zu informieren und einen virtuellen Raum für gegenseitigen Austausch und Unterstützung zu schaffen.
Die Gruppe wuchs rasch und mit ihr auch die Idee, die Zeit des Notstandes und der Isolation kreativ zu nutzen, um ein schweizweit einmaliges Kunstprojekt zu erschaffen. Das Ziel unseres Projekts ist es, Kunst in all ihren unterschiedlichen Facetten zu kreieren und die zusammengetragenen Werke in einem Buch zu sammeln. Durch die Erlöse, die wir mit dem Verkauf des Buches generieren wollen, hoffen wir den finanziellen Einschnitt für unsere Community etwas mildern zu können.
Mit dem Isolation Art Project wollen wir nicht nur diese aussergewöhnliche Zeit der Abgrenzung und der gegenseitigen Solidarität bildlich verewigen; Wir möchten diese Möglichkeit auch nutzen, um unsere Tattoo-Gemeinschaft näher zusammenzurücken und eine gemeinsame Plattform für unsere Kunst und unser Handwerk zu schaffen und mit der Welt zu teilen.
Janik Jehle, selbst ein Tattoo-Artist aus Zürich und beteiligt an dem Projekt, stellte sich, COVID-Konform, digital zu einem Interview zur Verfügung. Er erklärte, wie es zu dem Projekt kam, und wie das Teilen von Informationen und Kunst der Branche helfen können.
In eurem ersten Post habt Ihr erwähnt, dass das Projekt aus einer WhatsApp-Gruppe entstanden ist. Es ging um den Austausch von Informationen und um Unterstützung. Wer hat diese Gruppe ins Leben gerufen und woher kamen die ersten Mitglieder?
Das erste Mitglied war wohl ich; aber eine Community wurde es natürlich erst durch meine unzähligen Berufskollegen. Die Situation geht uns alle etwas an. Ich lud zunächst meine Bekannten ein, die wiederum ihre Bekannten einluden und so weiter. Jedes neue Gruppenmitglied ist Admin. Jeder Tattowierer willkommen. So verbreitete sich das Ganze vom Kanton Zürich aus über die ganze Schweiz, wie ein Kettenbrief.
Wie gut lief die Zusammenarbeit bisher? Konntet Ihr etwa die Suche nach Informationen, etwa an welche Stelle Ihr Euch wenden könnt wegen Lohnausfällen, in der Gruppe besser koordinieren?
Die Zusammenarbeit lief gleich zu beginn fantastisch. Für uns wichtige Informationen, Merkblätter, Formulare, Links und Medienberichte wurden geteilt und debattiert. Es wurde uns schnell klar, dass wir von den Sofortmassnahmen des Bundes nicht erfasst sein würden. Anstatt in der Not Fliegen zu fressen, kam R.J. Tattoo aus Bern auf die glorreiche Idee, nicht einfach auf Hilfe zu warten. Besser, wir helfen uns selbst, mit dem, was wir am besten machen: Kunst. Daraus wurde das Isolation Art Project.
In unsicheren Zeiten ist man ja auch mental auf Unterstützung angewiesen. Wie wichtig war und ist Solidarität für die Gruppe?
Die gegenseitige Unterstützung war für unser mentales Wohlbefinden Balsam. Wir sind nicht alleine, sitzen alle im gleichen Boot, sind füreinander da. Wahnsinnig gefreut habe ich mich darüber, dass sich aus dem grossen Chat kleinere, spezifischere, gebildet haben. Zum Beispiel gibt es einen Chat für Tattowierer, die der sogenannten Risikogruppe angehören. Es ist schön zu sehen, wie durch eine solche Mobilisation eine wunderbare Eigendynamik entstehen kann.
Ihr habt eine Instagram-Seite erstellt, die nach wenigen Tagen bereits mehr als 2800 Mal abonniert wurde, sowie einen rege genutzten Hashtag (#swissisolationartproject) ins Leben gerufen hat. Stecken dahinter dieselben Personen, welche die WhatsApp-Gruppe gegründet haben, oder hat sich das Projekt dort verselbständigt?
Der Isolation Art Project Account beruht auf der Idee der Gründer des Chats. Er bietet uns eine Plattform, um unsere Werke zu teilen, zu sammeln, unsere Idee zu verbreiten. Er schafft auch einen direkten Kommunikationsweg zwischen den Künstlern und ihren Kunstliebhabern. Aus dem grossen Gruppenchat haben sich organisatorische Subgruppen gebildet. Einige arbeiten an einer Buchidee und andere koordinieren den Instagram Account.
Wie viele Kunstschaffende, von denen Ihr wisst, arbeiten in dem Projekt bisher zusammen?
Eine genaue Zahl lässt sich da nicht nennen. Im grossen Gruppenchat sind wir an die Hundert. Allerdings sind eigentlich alle, die im Moment in Isolation Kunst schaffen, Teil des Projekts.
Das Ziel des Projektes ist ja ein Buch mit den geteilten Werken von verschiedenen Tattoo-Artists aus der ganzen Schweiz. Glaubt ihr, dass das gemeinsame Arbeiten an einem «geteilten Kunstprojekt» auch langfristige Veränderungen auslösen kann? Was wäre euer best-case Szenario für die Zukunft?
Da das Projekt ja noch sehr jung ist, können wir zur genauen Ausgestaltung des Buches noch nicht wirklich viel sagen. Zur Zeit handelt es sich noch um Ziele, um Ideen, quasi um ein Brainstroming. Das Buchprojekt wäre genial und die Sammlung der Kunstwerke auf Instagram ist der erste Schritt dahin. Die Kunst soll so divers sein wie die unzähligen Tattowierer, die sie erschaffen. Es soll aber auch Kunst erschaffen werden, die physisch greifbar ist. Wer weiss, vielleicht dürfen wir uns in Zukunft ja wieder versammeln. Da liegt eine grosse Ausstellung nahe. Schön wäre es natürlich auch, wenn diese Krise als Chance genutzt wird, als Nährboden für nachhaltige Gemeinschaften. Als Lehre dafür, dass es zusammen am besten geht.
Wie wichtig ist für Tätowierer*innen, dass sie Werke teilen können? Im Normalfall arbeitet ihr ja an Kundschaft und bekommt direkt Feedback. Könnt ihr den sozialen Teil eurer Arbeit mit dem Teilen eurer Kunst über das Internet ein Stück weit ersetzen?
Ein virtuelles Teilen kann meiner Meinung nach nie den persönlichen Kontakt zum Kunden ersetzen. Die Beziehung zum Kunden steht für mich definitiv an erster Stelle. Wenn das fertige Tattoo auf sozialen Plattformen Anklang findet, ist das natürlich auch schön.
Die schönste Anerkennung ist diejenige die ich von Kunden erhalte, die ihr Tattoo nach etlichen Jahren immer noch abfeiern.
Gibt es bereits Möglichkeiten, wie man das Projekt unterstützen kann?
Vorerst beschränkt sich eine solche Möglichkeit wohl auf das Teilen des Isolation Art Projekts. Natürlich steht es jedem offen, auch ein allfälliges Interesse an gewissen Kunstwerken direkt gegenüber demjenigen Tattowierer zu äussern, der es erschaffen hat. Support your local artist.
In diesen Zeiten, in denen man sich nur noch ungern von Nachbarn mit Pumpipumpe-Aufkleber etwas ausleiht und sich das, was man braucht, lieber online bestellt, fokussiert man sich auf andere Arten des Teilens. In unserer Typologie findet man das Teilen von Informationen und Ideen ganz oben unter den nicht greifbaren Gütern. Wenn das Buchprojekt allerdings erfolgreich ist, würde ich das entstandene Buch und die Rechte daran unter gemeinsamen Besitz (genannt «Joint Ownership Sharing») einteilen. Wir wünschen den Beteiligten viel Erfolg, und hoffen, dass die Idee es in den greifbaren Zustand schafft.